Samstag, 13. September 2008

Tanger Trance - Texte von Florian Vetsch und Fotos von Amsel



Geld für Schuhe. „M’ssieur! M’ssieur!“ Der Junge lief hinter mir her und liess sich weder durch hartnäckiges Schweigen noch durch harsche Worte abwimmeln. Es war schon nach Mitternacht und irgendein Schuft hatte mir an diesem Abend in der Medina das Handy aus der Kitteltasche stiebitzt, ein unangenehmes Gefühl. Wie ich auf eine etwas hellere Strassenstelle hinaustrat, drehte ich mich also um und sah den Rufer an: einen ungefähr 16-jährigen Jungen, der vor Dreck starrte. Er wollte mir nichts andrehen, mich nirgendwohin locken. Er bettelte mich nur an und zeigte dabei auf seine ungewaschenen nackten Füsse. „Welou“, sagte er, was ‚nichts’ bedeutet. - Er wolle nach Spanien, um dort zu arbeiten. „Nein“, sagte ich, „niemand wartet dort auf dich. Europa ist nicht das Paradies, für das du es hältst. Europa welou. Besser du suchst hier nach Arbeit, irgendwo in einem Café, einem Bakal, ach, ich weiss auch nicht...“ - Gestalten wie dieser Junge zeigen sich im Stadtzentrum von Tanger selten. Manchmal aber sieht man sie in den grossen Abfalleimern hinter den Märkten stochern oder durch die Stadt streifen, mit vorgehaltener Klebstoff-Schnüffeldroge, zu zweit, zu dritt, abgemagert bis auf die Knochen.

Preis. „Sie können das Zimmer haben, 150 Dirham die Nacht, aber ich will keine Nutten auf dem Zimmer, - sonst müssen Sie gehen“, sagte Abdul zu dem Holländer. Abdul führt zusammen mit seiner Frau Rabia das Hotel Muniria an der steil abschüssigen Rue Magellan; à l’époque nächtigten hier Burroughs, Ginsberg und Kerouac. Später erklärte Rabia, ein Gast habe einmal einen Garcon, einen Gamin, mit aufs Zimmer genommen. Als die beiden sich auf der grossen Terrasse mit dem Blick auf den Hafen und den Strand bezüglich des Preises für den Liebesdienst nicht hätten einigen können, habe der Junge den älteren Gentleman von der Terrasse hinuntergestürzt; es sei eine schreckliche Geschichte gewesen, mit Polizei und Spital... Auch würden die Nutten Freier gerne ausrauben, betrunken in die Ecke stellen, einfach abstauben: Geld, Kreditkarte, Pass, Uhr und Natel weg, und da sässe dann einer in der Bredouille. Deshalb, nur deshalb spreche Abdul mit neu einziehenden Gästen so hart.

Heimou. Im Hotelzimmer springt in der zweiten Woche die Tür auf und eine Femme de menage in Kopftuch, Schürze und Babouches tritt ein. Fliessend spricht sie nur Riffi, brockenweise auch Spanisch. Sie sagt, sie heisse Heimou und sei die andere Fatima, neben Rahma; sie arbeite jede zweite Woche im Muniria, habe 6 Kinder und keinen Mann mehr; von Männern habe sie genug. Heimou hat die Figur einer kleinen kräftigen Kugel, sie hat nur ein Auge und nur eine, die untere, Zahnreihe. Sie ist eine Superfatima.

Ramadan. „Wir müssen um 19:30 Uhr im Minzah ankommen, und wir sind schon spät dran“, meinte der Vertreter des Schweizer Botschafters in Rabat, als er mit seinem Chauffeur am 13. Oktober 2006 losfuhr. Doch noch vor Asilah war es Zeit für das Ftor, das Essen, mit dem das Fasten allabendlich im Ramadan gebrochen wird. Da setzte sich der Conseiller kurzentschlossen selbst ans Steuer, während neben ihm sein Fahrer heisshungrig das Ftor verschlang.

Mit über 140 Sachen. Bouchra brettert mit über 140 Sachen an dem gigantischen Med-Port vorbei auf der Route von Tetouan nach Tanger. Da gerät sie in eine Radarkontrolle, muss abbremsen. Der Polizist will 400 Dirham. „Die zahle ich nur, wenn Sie mir eine ordentliche Busse ausstellen“, hält sie seinem Begehr entgegen, „das ist mein Recht.“ Der Beamte, den Schreibjob fürchtend, meint nur, sie sei sehr hart. Da lächelt sie ihn an, drückt ihm einen 50-Dirham-Schein in die Hand und braust weiter. Kurz vor Tanger gerät sie in eine zweite Radarkontrolle. Diesem Polizisten sagt sie, sie habe gerade eine Kontrolle bezahlt; deshalb könne sie ihm kein Bakschisch mehr geben. – So sparte Bouchra an einem Tag 750 Dirham.

Islam. Wir fuhren in Hadjs Taxi von einem Ausflug in den Süden nach Tanger zurück, als uns, nach Asilah, ein Auto überholte. Hadj folgte ihm und erklärte, da sitze seine Mutter drin, sie werde ins Hospital gefahren. Er müsse dem Wagen folgen; wir zeigten vollstes Verständnis. Vor dem Hospital liess er den Wagen stehen. Wir warteten eine gute Weile auf ihn. Plötzlich war er wieder da, setzte sich hinter das Steuer und begann zu weinen, sagte unter Schluchzen, seine Mutter sei schwer erkrankt, sie leide fürchterlich. Dann aber ermannte er sich wieder, erholte sich langsam vom Schmerz, während er sich die Tränen abwischte und mehrmals, ergeben, „Hamdullah! Hamdullah!“ flüsterte.