Ich bin nach Louisville gefahren. Das ist die Grenzstadt im englischsprachigen Nordwesten. Da gibt’s ein legendäres Hotel. „Grand Lodge“ heißt es und liegt zwischen den beiden Zollübergängen in einer Art Freihandelszone oder Niemandsland. Vor dem Hotel reihen sich die Lastwagen auf. Es ist natürlich der Treffpunkt für Schmuggler, Hehler, Waffenschieber, Prostituierte und wahrscheinlich auch für die Führer der PLA.
In der Lobby dort lernte ich Freddie kennen, der mich am Samstagabend ins „XXL“ führte. Freddie arbeitet im Spielcasino in Louisville. „Du kannst mir vertrauen“, sagte er, „I know too many people.“
Wir kamen so um elf Uhr im XXL an und tranken ein „Hunter´s“ an der Bar. Über der Theke stand: „Wenn du trinken willst um zu vergessen, zahle bitte im Voraus.“ Dann gingen wir tanzen. Freddie rief seine „Cousine“ und sagte ihr, sie solle mit mir tanzen, ich sei allein.
Dann tanzte jedoch eine andere mit mir und fragte mich, ob ich ihr ein „Savannah“ hole. Ich willigte ein, und sie rief mir nach, ich solle für ihre Schwester auch noch ein „Castle“ mitbringen. Offenbar hatte ich jedoch nicht richtig gehört, denn als ich zurückkam, wollte die Schwester das „Castle“ nicht. Dafür fragte mich eine andere, ob sie es haben könnte, wenn ich ihrer Freundin dafür noch ein „St. Louis“ brächte. Kein Problem, ich musste sowieso nochmals an die Theke, da ich mein eigenes „Windhoek light“ vergessen hatte, und zudem gab es mir die Gelegenheit, der Nachbarin der Schwester der zweiten Tänzerin noch ein „Black Label“ mitzubringen. Sie hieß Mpule. Freddie hatte mir inzwischen auch noch ein weiteres „Hunter´s“ mitgebracht, und so hatten wir zwar bald alle Lust loszutanzen, standen jedoch die meiste Zeit wartend vor der Toilette.
Dennoch amüsierten sich alle köstlich. Es war ein bisschen wie ein Rave mit viel Ecstasy. Alle waren wahnsinnig liebevoll und liebesbedürftig, viel Lachen, Umarmen, Sichgehenlassen, untermalt von euphorischen, mit Drum´n´Bass unterlegten Zulugesängen.
„Wie lange bleibst du noch?“, fragte mich die Cousine.
„Zwei Wochen“, sagte ich.
„Wirklich?“ fragte sie ungläubig zurück. „Ich bleibe höchstens bis drei Uhr.“
Freddies Kollege flüsterte mir ins Ohr: „Hip-hup mag ich nicht.“
„Hip-hup?“
„Ich bin Heavy-Metal.“
Er erklärte mir, er habe eine Yamaha-Orgel zu Hause, und da produziere er nachts jeweils einen Heavy-Metal-Sound, der sei so... Er verzog das Gesicht, um mir anzudeuten, dass er an der Grenze des Unaussprechlichen angekommen war.
„There are so many heavy-metals in it“, raunte er schließlich, schaute mich einen Moment forschend an, um dann zu enden: „Das ist so tief, das wirst du nie verstehen.“
Die Nachbarin der Schwester, Mpule (was „Bring den Regen“ bedeutete, wie sie mir erklärt hatte), der ich inzwischen noch ein „Black Label“ (aber in der Dose bitte, hatte sie mir nachgerufen) gebracht hatte, schlug mir vor, nachher mit dem Taxi zu ihr nach Babusi zu fahren. Weil ich in Gedanken jedoch noch immer beim Rätsel der zu vielen Schwermetalle war, fügte sie, wie zur Verdeutlichung, hinzu: „Kannst du mir einen Hundert-Shilling-Schein geben, dann hol ich noch die letzten Drinks, damit wir Kleingeld fürs Taxi haben.“
„Nein, nein“, sagte ich, „ich bin betrunken, ich gehe nachher brav schlafen, alleine.“
„Ich lebe mit meiner Mutter, kein Problem“, fuhr Mpule fort. „Mein Vater ist vor einem Jahr bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ich habe überlebt.“
Sie zeigte mir die Narben am Arm.
Ich kondolierte.
„Kannst du mir Geld geben für die Wasserrechnung?“ fragte sie.
Ich dachte, sie sei jetzt vielleicht auf die „letzten Drinks“ zurückgekommen, und sagte, für mich sei genug.
„Ich muss morgen bezahlen“, sagte Mpule, „sonst stellen sie uns das Wasser ab.“
„Aber morgen ist Sonntag“, bemerkte ich geistesgegenwärtig.
„Meine Mutter braucht das Geld.“
Eine Stunde später stand ich an der Reception des „Grand Lodge“ und sagte: „Nein, ich möchte jetzt nur in Ruhe schlafen.“
„Lass mich bloß rasch in deinem Zimmer zur Toilette gehen.“
„Nein, nein, nein“, sagte ich.
Da ging sie in den Innenhof und pinkelte in eine Ecke. Die Frau an der Reception fauchte mich an, ich müsse hundert Shilling zahlen und morgen das Hotel verlassen.
Ich winselte: Was kann ich dafür?
Sie rief den Hotelmanager und sagte, es sei meine Schuld, weil ich das Mädchen nicht auf meine Toilette gelassen habe, wogegen ich protestierte. Sie wiederholte immer wieder das Wort „Busse“ und brachte meiner Verehrerin einen Aufwaschlappen. Das war für Mpule nun das Zeichen, sich ebenfalls in die Diskussion einzuschalten.
Ich nützte das allgemeine Tohuwabohu, um ganz still in mein Zimmer abzuschleichen und zwei Mal abzuschließen.
Am nächsten Tag sprach mich auf der Straße jemand an.
„Erinnerst du dich an mich?“, fragte er. „Ich wollte dir gestern Abend im XXL etwas sagen.“
Ja, ich hatte nicht auf seine Begrüßung reagiert, weil ich dachte, er schnorre bloß einen Drink.
„Ich wollte dich vor dem Mädchen warnen.“ Er sprach von Mpule. „Sie hat vor einem Monat einen Freund von mir im XXL abgeschleppt. Sie sind in die Grand Lodge gegangen, und dann rief sie die Polizei und sagte, sie sei von ihm vergewaltigt worden. Nächste Woche ist die Gerichtsverhandlung.“
Mon Dieu. Am nächsten Tag ging ich wie alle guten Afrikaner nach durchzechter Samstagnacht zur Kirche. Um Busse zu tun, aber auch, weil Nachtklubs und Kirchen doch sowas wie Hauptschlüssel zu einer Kultur sind. Hier, in der „Church of Christ“, hatten die Gläubigen die schöne Angewohnheit, zum Beten nicht die Hände zu falten, sondern sich innig zu umarmen. So, eng umschlungen mit meinem dicken, heftig schwitzenden Sitznachbarn im Nadelstreifenanzug, dankte ich also dem lieben Gott, dass er mich zwar in Versuchung geführt, aber vor dem Bösen bewahrt hatte.
Auszug aus dem Roman "Keine Chance in Mori", Salis Verlag, Zürich, 2007
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