Du stehst in einer Bar, die Spiegel hinter der Theke sind fleckig, im Hintergrund klappert ein Flipperautomat. Dein Gin Tonic ist fast leer, soeben hat dich eine Frau gefragt, ob du ihren Geldbeutel gestohlen hast und du denkst dir, das kann doch alles gar nicht sein. Du schnappst dir eine Zigarette und gehst nach draußen; vor der Türe triffst du Michael, einen alten Bekannten aus einer Anderen Zeit. Er fragt, was du gerade machst, und du erzählst ihm, dass du ein paar Tage weg fährst, Urlaub machen, einen Freund treffen, vielleicht siehst du dich dort auch nach einem Job um, das weißt du noch nicht so genau. Als du zurückkommst, steht die Frau immer noch an der Theke, und du beschließt, woanders hin zu gehen, weg von hier.
Durch einen Zufall bist du in Casablanca gelandet, wolltest eigentlich auf das nächste Flugzeug warten, aber dann fragt dich ein deutscher Ingenieur, ob du im Auto mitkommen möchtest. Der Mann in der Gepäckermittlung freut sich, sein Deutsch erproben zu können, er hat zwei Jahre am Goethe-Institut gelernt und du bist erstaunt, wie gut er spricht, ohne jemals in Deutschland gewesen zu sein. Du hattest Wüste, Stein oder Sand, vor deinem inneren Auge gehabt, aber es dauert eine Weile, dann erst siehst du, dass alles grün und saftig ist. Mit dem Ingenieur sprichst du ein bisschen über Fußball, erfährst, dass er in nahezu jedes FC Bayern-Spiel reist, danach habt ihr euch nicht mehr viel zu sagen, dein Körper wird länger und schwerer, du fängst an dich zu entspannen. Dein Blick wendet sich immer wieder nach links zum Atlantik, du siehst viele Schafe, überraschend wenige Autos und manchmal Kamele.
Es ist bereits dunkel, du wirst an einer belebten Straße vor dem Café de Paris abgeladen und jetzt, warum erst jetzt?, realisierst du, dass du nicht mehr in Europa bist. Ein unwillkürlicher Instinkt lässt dich deine Tasche fester halten, dein Portemonnaie sichern. Du hattest dir alles westlicher vorgestellt, - wie eigentlich? - und nun siehst du viele Frauen mit Kopftüchern und einige Cafés, in denen ausschließlich Männer sitzen. Ein relativ kalter Wind bläst vom Meer her, du weißt nicht, ob vom Atlantik, vom Mittelmeer oder von beiden und plötzlich schaltet etwas in dir um, genau, das ist der Ort, wo du hin wolltest, du lächelst in dich hinein, fühlst dich aufgehoben und einige Minuten später wirst du auch schon abgeholt.
Als du eine Flasche Wasser kaufen willst, bist du überrascht, weil niemand deine paar Brocken Spanisch versteht, du versuchst es mit Französisch, dann mit Mimik und Gestik, überlegst kurz, ob du Hilfe herbeiholen sollst. Dann bleibt die Zeit stehen, dunkle Menschen gehen verlangsamt an dir vorüber, jemand steht neben dir, du kennst ihn, oder ist es eine sie? Du fühlst ein kurzes Erkennen, ein altes Vertrauen, dann hörst du die Stimme des Ladenbesitzers, er hält dir eine Colaflasche hin. Du schüttelst den Kopf, ein Junge wird zum Übersetzen herbei gerufen, dann erhältst du dein Wasser, dazu ein leises, fast mitleidiges Lächeln.
Auf der Straße geht es hauptsächlich darum, ob Real oder Barcelona Meister wird. Die marokkanischen Mannschaften sind nur zweitrangig, am Wochenende wird Primera Division angesehen. Im Restaurant trinkst du Bier und kostest Tapas, während Barcelona einen Spieler vom Platz gestellt bekommt und das Lokalderby verliert. Am späteren Abend füllt sich das Lokal, marokkanische Frauen kommen alleine oder zu zweit und setzen sich an die Tische, werfen dezente Blicke. In den Clubs triffst du auf Spanier, Franzosen, Amerikaner, dazwischen manchmal auf einen Deutschen, einige arbeiten hier, andere gehen ihren Bedürfnissen nach. Es gibt eine kleine Schlägerei, während du gerade draußen bist, danach wird zugesperrt und die Nachtgänger suchen sich andere Schauplätze.
Dein Blick geht über das Meer Richtung Spanien und dir fällt eine Geschichte ein, die du unbedingt erzählen musst: Einmal, es ist schon eine Weile her, ging eine japanische Frau, ihr Name war Kumiko, zu einem Ort in der Nähe des Meeres. Hierher, auf ein kleines Felsplateau, kam sie manchmal, um einen jizô aufzustellen. Jizôs sind kleine Steinfiguren, die zu früh gestorbene Kinder auf ihrem Weg in eine andere Welt begleiten und beschützen. An diesem Tag hatte sie einen besonders schönen, von ihr selbst liebevoll bemalten jizô mitgebracht. Als sie sich auf dem Plateau niedersetzen wollte, um den richtigen Platz für die Figur zu finden, stieß sie ihren kleinen Zeh, sie trug nämlich niemals Schuhe, wenn sie auf das Plateau ging, an einem Stein an. Ein Schmerz durchfuhr sie und ihr Zeh begann zu bluten. Voller Schreck packte sie den jizô und schleuderte ihn ins Meer. Ihr Blick folgte dem fallenden Stein und auf einmal sah sie, wie er sich in einen wunderschönen, bunten Vogel verwandelte. Der Vogel stieg in die Luft, flog einen sanften Bogen und sang ein Lied, während er Kumiko einige Male umkreiste. Dann schwebte er Richtung Meer und entschwand langsam ihren Blicken.
Man erzählt dir, dass die Stadt in den letzten Jahren stark saniert wurde. Der junge König hat einen neuen Hafen bauen lassen, Straßen und Häuser wurden renoviert, ein großes mediterranes Touristenzentrum ist am entstehen. Für dich ist es relativ unwesentlich, wie alles früher war. Nicht, dass dich Bowles oder Choukri nicht interessieren würden, aber dir geht es um das Jetzt. Du siehst eine alte Frau auf der Straße sitzen, ein Mann lässt seine Schuhe putzen, eine elegante Frau mit Kopftuch und high heels mustert dich, ein teurer Wagen fährt vorbei und in ein paar Minuten triffst du dich mit einem deiner wenigen Freunde. Was danach kommt, wer weiß das schon?
1 Kommentar:
Die Texte von Wolfgang Asen sind eigenwillig, interessant sie mit denen von Florian Vetsch zu vergleichen, da ist eine verwandte Optik und auch nicht, was mir an beiden gefällt, ist die Perspektive auf das, was jetzt läuft, eine neue wichtige Tanger-Zeit ist angebrochen, in der das Vergangene aufbewahrt bleibt und doch neu überschrieben wird ... Amsel
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