vorab:
der orient,
sagten mir meine studenten
sei ein konstrukt
eine erfindung des westens
nichts davon sei wahr
man finde nur,
was man suche
das wüsste man
in der physik schon längst
ah, sagte ich
weiter:
klar, mir gefällt der blick aus meinem zimmer
auf die grosse moschee von tanger
der turm erleuchtet in der nacht
und gegen den muezzin
der einen frühmorgens aufweckt
nichts einzuwenden
in m’sallah, wo ich vorher wohnte
hörte ich mehrmals am tag
wenn sie die toten nicht zum waschen,
wie ich dachte
sondern zum beten
dort in die moschee brachten
dann reckte ich meinen kopf aus dem fenster
so nett anzusehen die träger
das grüne tuch ueber dem leichnam
die golden eingestickte schrift,
der monotone singsang
eine sure aus dem koran
nichts einzuwenden
mir gefällt auch der gedanke an frischen honig
den sie den toten in den mund träufeln
dazu ein paar tropfen wasser gegen den satan,
um die geister zu vertreiben
die vom weg zu allah abringen könnten
so jedenfalls, habe ich es gelesen
zwischendurch:
klar, zuhause würde man den pfarrer
wenn er vom kirchturm,
fünfmal täglich das ave maria beten würde
früher oder später erschiessen wollen
aber mir gefallen die osterprozessionen
die semana santa in sevilla zum beispiel
das gedränge, das getrampel der menschenmenge
der kitsch, die bigotte hysterie, die inbrunst
natürlich die heilige jungfrau auf den schultern starker männer
so ist das nicht
weiter:
ich mach noch einen schritt
ich muss nämlich gestehen
ich hab eine vorliebe für waffen
vorzüglich für das maschinengewehr
mir gefallen diese männer
die dieses ding so martialisch
wie eine gefährtin in händen tragen
und mit ihr so hart im anschlang schön posieren
selbst wenn diese männer bart tragen
kaftan oder jellabah
es ist ein schöner anblick
die wilden männer in der wüste
(nicht die märtyrer mit dem tuch um den schädel
das ist eine schreckliche aesthetik)
es ist der ausblick auf den kampf
den grossen kampf gegen das böse böse
den niemand mehr führen möchte
jedenfalls nicht im golden westen
wo alle nur noch demokratisch sind
klar, viele werden sagen,
das ist hirnrissig
den saulus zum paulus zu machen
die leute, die als erstes an deine tür klopfen
wenn es so weit ist,
wenn ihre stunde geschlagen hat
das irdische armageddon rollt
die säuberung von allen ungläubigen
das blut im namen gottes fliesst
wie so oft in irgendeinem namen
hinterher:
da bleibt einem nur
sich den eigenen tod recht hübsch vorzustellen
wie im haus gegenüber etwa
als der nachbar vor kurzem
plötzlich
frühmorgens am herzinfarkt
ganz schnell hinübersegelte
zwei tage alle türen offen
kommen und gehen
im salon die frauen
die männer abseits, im anderen zimmer
alle mussten brot und honig essen
aus einem riesigen pot
die bösen geister wieder?
am dritten tag
durfte im haus wieder gekocht werden
essen und trinken, familie und freunde
hundert, hundertfünfzig zweihundert menschen?
und natürlich aus dem koran gesungen
stundenlang, stundenlang
dass mir ganz schwindelig wurde
das klappern aus der küche
der femmes de ménage
kam laut bis in mein zimmer hoch
als würden sie neben mir stehen
die schwitzenden, jungen mädchen
vor meinen augen, der dampf im salon vom essen,
von den menschen, von der luftfeuchtigkeit des winters
jetzt höre ich die kinder draussen
vor der tür tanzen schreien laufen spielen
als wärs keine beerdigung
als wär niemand gestorben
als würd es einfach weitergehen
klar, irgendwie denkt man
so könnte der eigene tod sein
auch wenn man unter der erde liegt
jetzt haben sie aufgehört zu singen
vielleicht essen sie wieder
es ist so still plötzlich
das grosse gemurmel ist weg
nur die kinder aus der ferne
für sie geht es noch lange so weiter
von einem fest zum anderen
bis zu meinem
bis zu deinem
bis zu ihrem eigenen
es ist 22 uhr 14 und 35 sekunden
montag, den 27 januar 2003
schluss
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen