Montag, 26. November 2007

Frank Bröker: Berichte aus dem Menschenzoo I

"Ein Leben ohne Freunde ist wie eine weite Reise ohne Wirtshaus." – Jean de la Bruyères Erkenntnis

Intro: Dosierte Schönheit

Habe den Mp3-Player verlegt und weil mir die Stöpsel eh andauernd aus den Ohren fallen, will ich es dabei belassen. 1990. Das war vor Jahren. Die Fehlfarben sangen ihren Song viel eher, Ende der 70er. Wenn man wächst, jung ist, wächst auch die Musik mit. Die Bands blieben sich früher länger treu, machten über Jahre hinweg Platten. Dann waren da noch Eintagsfliegen, One-Hit-Wonder. Ohrwurm setzt ein: „Words, don’t come easy to me. This is the only way for me to say, I love you, words don’t come easy“. Heute gilt ein Musikerjahr für sieben. Eine Kurzlebigkeit mit der Unterlassungserklärung, beim ersten falschen Ton sofort aussterben zu müssen. Ich finde das sehr gerecht. Wenn Fußballer träge werden, müssen sie schließlich auch Lottobuden aufmachen. Und da reden wir jetzt von den nicht gerade Ambitioniertesten. Von denen, die man eines schönen Samstages überhaupt nicht vermisst. Wer waren noch gleich die Uwes Bracht und Wegmann? Keine Ahnung.

Überträgt man diese Chosen auf die Schönheit der Menschen, winke ich mit abstehendem Zeigefinger am Glas ab. Denn Schönheit muss echt sein. „Unikum statt Klinikum“, sehe ich die Schützer der Schönheit schon rufen, später mit Autolack an die Wände sprühen. Während der Chirurg der Patientin ein weiteres Stück Hirnrinde absaugt. Das, was ich am Menschenschlag, gerade wieder, als ich mich auf den Weg machte, entdecke, entspricht tendenziell dem Gegenteil. Die Einen sind so voller Makel, dass mir schlecht wird. Die Anderen sind maskierte Teilzeitarbeiter. Dann gibt es noch die Korrigierten, die Gedopten, die uns suggerieren sollen, sie seien bewundernswert. Das ist großer Mist. Schönheit kommt von innen, sagt man, und wenn das tatsächlich so sein sollte, hat Schönheit sehr viel Durst. Der Kellner, Haare wie ein junger Dackel, bringt die Zutaten dagegen. Irgendwo, im Nahen Osten, drückt ein Kind auf eine selbst gebastelte Fernbedienung. Sekunden später fliegt seine Mutter in die Luft.

Extro: Das Spiel fängt an

Wer es sich abends unter einem Hibiskus bequem machte, nur um von der Südsee zu träumen, galt als untragbar. Wir hörten uns lieber das Geschwätz in den Werbeblöcken großer Filme an und sahen uns dabei an den Abgesaugten satt. Unsere Diskussionen, und die darin eingeflochtenen, unverrückbaren Meinungen, verloren rasch an Haltbarkeit. Mal ging es darum, sich der RAF anzuschließen, mal darum, ob sich die Anschaffung eines Biomülleimers positiv auf das Weltklima auswirken würde. Übrigens – das Gegenteil war der Fall. Diskussionen aus der Wortspielhölle. Damals. Dieser doch sehr berechenbare Zeitpunkt. Geprägt von billiger Schönfärberei. Ich kann von mir sagen, damals ging es mir genauso wie heute. Dieselbe Unsicherheit, alles falsch zu machen, in der auch tatsächlich alles ungut verlief. Sicherlich, all die Sonnenwenden hatten ihr Gutes, ich überlebte sie zumindest. Aber nur, weil ich wirklich immer ein großer Optimist war. In allen Dingen. Und wenn ich diese Dinge wieder verließ, kamen neue. Das ist der Unterschied zum heutigen Kalenderriss. Jetzt wird das Turmzimmer, wird die Wohnung, immer voller. Ich werfe nichts mehr weg, bin ein Sammler bester Erinnerungen. Alles stapelt sich. Und ich gehe daraus hervor. Manchmal so ausgelassen, wie die Butter in der Pfanne. Die schlechten Ereignisse scheinen bei einem der letzten Umzüge abhanden gekommen zu sein. Vermutlich liegen ein paar im mittleren Westen, dort, wo es genauso wie in Chemnitz aussieht. Jeden Tag lanciere ich meine Flanken auf das Halbfeld da draußen. Wo die Verrückten und ich – keine Ahnung, warum sich diese Typen von mir angezogen fühlen – um jeden Ball, mit viel Tempo, der Bereitschaft zum vollen Risiko, Angriffe aus der Tiefe des Raumes starten. Gegen wen oder was ist vollkommen indiskutabel. Im Grunde haben wir uns alle nur eingerichtet. Auf dem Spielfeld. Einen Hafen geschaffen, den wir nicht einfach verlassen können oder wollen. Vermutlich würden wir selbst bei Luftangriffen in unseren Wohnungen ausharren. Wie alte, störrische Ostpreußen, die mit dicker Zigarre in der Hand auf das Einrücken der Roten Armee warteten. Dabei ist Flucht doch schon immer die Option mit der größten Erfolgswahrscheinlichkeit gewesen. Affekt über Ratio. Die Sonne als Affekt, der Mond als Ratio. Seit der 35. Minute muss Hamburg mit nur noch 10 Feldspielern auskommen. Ein Verteidiger weniger; der Trainer reagiert, wechselt die zweite Spitze gegen einen Mittelfeldmann aus. Vorbei, die gestaffelte, hintere Viererkette. Als der Schiedsrichter die rote Karte zog, hatte ich das Gefühl, mich im Schlepptau einer Ameise zu befinden, die mich fand, aufsammelte und in den Bau tragen wird. Wo bereits tausende andere auf mich warten. Der Freistoß des Gegners verpufft ins Aus. Ratloser Blick des Schützen, der ausspuckend über den Rasen trabt.

Vermutlich, und das ist eigentlich ein schöner Ansatz, hilft uns nur ein Krieg weiter. Ein kleiner Krieg, ausgefochten mit uns selbst, in dem all die Erinnerungen, Wohnungen und Inventare komplett ausgelöscht werden. Luft und Entspannung zum richtigen Zeitpunkt werden dringend benötigt. Wir müssen nur den Fußballkommentaren lauschen, um zu wissen, welch gedanklichem Unsinn wir täglich ausgesetzt sind. Das Spiel ohne Ball stimmt. Wir spinnen diese Gedanken doch nur, weil sie uns aufgesetzt werden. Und wer meint, dass wenigstens die Schlafträume unvergiftet sind, kann von Glück sagen, dass er sich an die meisten nicht erinnert. Denn schon beim Aufwachen stellen sie dir die Frage: Willst du heute ein Sieger oder ein guter Mensch sein? Ich lehne mich zurück. Das Gruschenko füllt sich leise, so, als kämen die Leute her, um zu beten. Selbst die Mutter aller Wracks, neben mir am Tresen, die so hässlich ist, dass man meint, eine Schiffsschraube sei ihr durch den Körper gebohrt worden, schläft in friedlicher Harmonie. Der Kabarettist, der mich abends in seinen Varietés als beispiellosen Retro darstellt, starrt gebannt auf den Flachbildschirm. Fruchtfliegen-Stukkas stürzen in kalte Getränke und der blondgraue Sportreporter, der in seinen Spielkommentaren immer behauptet, selbst im Stadion dabei gewesen zu sein, bestellt Bockwurst. Und noch ein Bier. Und niemanden hier, in dieser Kneipe, scheint das auch nur im Geringsten zu interessieren. Hamburg führt bis zur 80. Minute. Kurz vor Schluss der Treffer zum Ausgleich. Ist das Glas noch voll? Oder bin ich es? Die große Philosophie eines abgeschriebenen Tages. Ich spüre nichts anderes, als leichte Traurigkeit.

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