Wir hätten uns auch anders begegnen können. Als Kind wollte ich Stewardess werden, da hatte der Pilot die vorgegebenen Koordinaten bereits verlassen. So aber war es umgekehrt: Ich lernte zuerst die Worte und dann die Bilder. Haben Sie je vom Vogel Uso gehört? Laut Überlieferung frisst er alle Lügen auf, die man im kommenden Jahr sagt, und verwandelt sie in Wahrheiten.
Seit Wochen bin ich für mich. Allein im leeren Haus, durch das der Wind streicht. Hilf mir, mich umzubringen. Eine Uhr bleibt stehen. Sterne brennen wie Fackeln, doch das Zimmer ist voller Schatten. Durchtrenne die Wortreihen, und die Zukunft sickert ein. Manchmal weiß ich nicht mehr, ob ich in einem Traum dieser glitzernden Stadtkulisse gelandet bin oder sie in meinem. Nichts ist vergessen, aber ich schreibe ins Leere. Sehe mich in der Lobby des Continental sitzen, neben einem Flügel, der nach Jahrzehnten Feuchtigkeit und Wind völlig verstimmt ist, ich sehe mich dort sitzen, einen Winter lang, frierend und durch die offene Tür aufs Meer starren. Alles will seine Zeit und die Zeit will es. Oder ist Zeit ein anderes Wort für Allah?
Paris, im Winter. Musiker aus Afrika sind angereist, wir sitzen auf dem Boden, der Pilot stellt mir Gysins Biografin vor, wir essen zusammen, es gibt Tee und eine Sebsi, und neben mir sagt jemand immer wieder dasselbe Wort: Soleil. Ich denke an Tanger und friere. Wenig später sehe ich zum ersten Mal den Film Sans Soleil von Chris Marker.
Selbst in diesem fremden Land muss ich meine Bewegungen definieren: Licht, das auf dem Weg zum Wasser durch die Bäume fällt, ein mechanischer Blick in die Briefablage, das Bedürfnis, eine bestimmte Musik zu hören, und nur sie. Gestern Abend am aufgewühlten Meer war ich der Wahrheit ganz nahe, zumindest blitzte sie sekundenlang auf: Ich muss den Körper betäuben, das Bewusstsein liegt ohnehin in Scherben. Hier kommen plötzlich Erinnerungen an ein Fieber, eine Sucht, die ich vergessen wollte. Es ist das Bedürfnis, Worte zu finden für das, was ich sehe und höre, denn ich möchte es malen: das leuchtend dunkle Blau der Trichterwinde, den Rauch des Holzfeuers, den heiseren Klang der Stimmen von Frauen, die sich aus den Fenstern gebeugt lang und breit guten Tag wünschen, das Rauschen der Kriegswimpelpalmwedel über mir, das Heulen von Hunden und Muezzins, die Totenstille zur Mittagszeit, durchbrochen bloß vom Knattern eines Motorrads, das seine Spuren im Traum hinterlässt. Es ist der Afrikanische Winter. Wem soll ich erzählen, was ich allein erlebe: die Fernsehantennen auf den Dächern, ein verwischtes Abendrot über der Stadt, den Duft des Kaffees auf dem Boulevard, das Lächeln junger Mädchen, die ich anstarre, als könnten sie mir etwas verraten, lächerlich ...
Erinnerung an einen anderen Winterabend in Frankfurt, der Pilot blättert Blöcke voller Aquarelle vor uns auf: Mädchenakte, einer nach dem anderen, es sind Hunderte, alle selbst gemalt. Ich weiß noch, dass ich kein Wort herausbrachte, ob aus Verblüffung oder Langeweile, kann ich nicht mehr sagen. Unsichtbare Zusammenhänge, die Jahre später ans Licht kommen, Zufälle jedenfalls gibt es hier nicht. Ich hätte auch Astronautin werden können. Sternzeit calling.
Meine Gedanken kreisen darum, was uns geschehen ist und warum keine Erleichterung kommt, bloß immer neue schwarze Wellen, Stunde um Stunde. Ich schreibe und weiß nicht was, außer dass in meinem Haus immer noch das Wasser abgestellt ist und ich morgens um sechs baden möchte. Es regnet ohne Unterlass. Tanger im Regen ist trostloser als das Ende der Welt. Wir haben uns auf der falschen Bühne getroffen, aber Dramen kann ich ohnehin nicht ausstehen. Ich zähle mir alle Möglichkeiten auf, ich reihe sie aneinander wie Perlen und bete sie herunter, um mir Mut zu machen. Das Geheimnis, das bleiben soll, flackert auf, wenn ich meinen Körper betrachte, der immer nur reagiert, im Gegensatz zum Kopf, der alles erfindet, sogar Geschichten, die in diesem Leben nichts verloren haben. Ich kämpfe um Ruhe; manchmal hilft alles nichts. Licht und Schatten hier sind hart wie Leben und Sterben. Auf der Flucht ... vor den Bildern, die an mir kleben, und vor den Erinnerungen. Ich sehe das Café Sehnsucht, ein Buch, ein Backgammonspiel. Der Pilot beugt sich herab, und die Stille zwischen den Wörtern ist scharf wie ein Messer. Ich sehe drei grüne Fensterläden am Socco Chico, hinter denen die Träume für immer begraben sind. Staub zu Staub. Im Grand Hotel von Fez sitze ich in einem hässlichen Speisesaal und zähle die Risse in der Wand. Selbst der Kellner hat ein großes Warten im Gesicht. In Meknes laufe ich mit Zaubersprüchen im Kopf durch den Souk. Schönheit macht mich hilflos vor Begierde. Ich phantasiere unablässig. Nichts lenkt ab, nichts beruhigt.
“Wer hat gesagt, die Zeit heile alle Wunden? Besser sollte man sagen, die Zeit heilt alles, nur nicht die Wunden. Mit der Zeit verliert die Wunde der Trennung ihre wahren Ränder. Mit der Zeit wird der begehrte Körper nicht mehr sein, und wenn der begehrende Körper schon aufgehört hat, für den anderen zu existieren, ist das, was bleibt, eine Wunde ohne Körper.”
Das Hotel Continental fällt langsam auseinander, der Regen verschleiert den letzten Anflug von Haltung. Alles, was ernsthaft ist, berührt wie eine Klinge, an der man sich verletzt. In Japan schickt man der Geliebten seinen abgehackten Finger, wenn man um Verzeihung bittet. Aber in Japan betet man auch für nicht abgeschickte oder zerrissene Briefe. Die Stadt ist übersät mit meinen Schnipseln. Heute dachte ich daran, wie es sein könnte, wieder sprechen zu lernen. Nicht um die Welt zu definieren, sondern um sie zu dechiffrieren. Als wäre ein anderes Leben möglich. Ich hätte lernen können, meinen Körper zu verlassen. Und noch was war da, am Strand, die Gewissheit, dass es mehr gibt als alles oder nichts, wir wissen nur noch nicht, was. Ich starre auf ein paar Safranfäden in meiner Handfläche. Da, wo der Regen sie berührt hat, bildet sich ein rötliches Muster auf der Haut. Einer war hier, der zu viele Fragen stellte.
Am Morgen das Gefühl einer Lüge. Seitdem geht es besser. Ich hatte die ganze Nacht von Trommeln geträumt. Wolkenfetzen flogen vorbei, aber es war alles dunkel. Draußen heulten die Hunde, oder waren es Wölfe? Ich wachte auf und träumte weiter. Der Rhythmus war immer derselbe. Etwas Bitteres ist in meinem Mund, das nicht weggehen will. Morgens um sechs hängt die Stadt wie eine blasse Kugel am dämmrigen Himmel. Die Wölfe sind verschwunden. Es ist jetzt leichter. Die Bilder kommen, aber sie bleiben stumm. Weiße Vorhänge bauschen sich im Wind. Plastiktüten und Möwen segeln um das Hotel. Ich beobachte den Schatten, der langsam an der Palme und ihren orangeroten Früchten herabfällt, ein müdes Abendkleid, entbehrlich, sobald es Morgen wird.
Dann kommt der Tag, an dem es an meiner Tür klopft, kurz bevor der Kundige einen weißen von einem schwarzen Faden unterscheiden kann. Yallah. Links über meiner Schulter schwimmt der Achtelmond, noch eine halbe Woche, und der Ramadan ist vorbei. Der Bus rumpelt durch die stockfinstere Nacht, schwarze spitze Kapuzen heben sich vor den Fenstern ab. Niemand spricht, selbst das obligatorische Radio schweigt. Einzig der Name Gottes ist in aller Munde. Menschenschatten tauchen am Straßenrand auf, Berber reiten auf Eseln zum nächsten Souk. Eine Ewigkeit später fällt der Blick aus dem Nichts in ein verführerisch funkelndes Lichternetz, mit dem sich die urbanen Gegenden des Planeten für die Nacht schmücken. Navigation durch einen fremden Raum; Reisende und andere Flüchtlinge sind die einsamsten Menschen der Welt. Sie denken sich Geschichten aus, um sich selbst zu unterhalten. Ich starre auf die Safranfäden in meiner Hand: Da, wo der Finger war, hat sich die Haut rot verfärbt.
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